11 Aug |
„Ein geschädigtes X-Chromosom sucht man sich nicht aus.“ Wenn Mütter ihren Söhnen unwissentlich Krankheiten vererben![]() |
Die Beziehung einer Mutter zu ihren Kindern ist die innigste überhaupt. Eine Mutter möchte ihre Kinder beschützen, ihnen Liebe und Fürsorge schenken. Was aber, wenn sie ihnen unwissentlich auch eine unheilbare Krankheit übergibt? Wir stellen vier Erberkrankungen vor, die von nicht erkrankten Müttern an ihre Kinder weitergegeben werden. Häufig erfahren sie erst bei deren Geburt, dass sie selbst Trägerinnen der Krankheit sind. Wie gehen sie damit um und was bedeutet das für die sensible Mutter-Kind-Beziehung?
In anderen Ländern sterben die Kinder daran
Als Helga R. nach ihrer ersten Entbindung erfuhr, dass sie ihrem Sohn eine seltene, unheilbare Blutgerinnungsstörung vererbt hat, war sie überrascht. Vorwürfe machte sie sich aber von vornherein keine. „Ich hab mir das ja nicht ausgesucht“, sagt sie. Überhaupt ist Helga eine eher pragmatische Frau: „Ich dachte: Ich hab das jetzt, und wir leben in Deutschland, und hier können wir gut mit der Krankheit alt werden. Aber in anderen Ländern, in Rumänien oder so, sterben die Kinder daran.“ Dank innovativer Therapien geht es ihrem Sohn heute gut, er ist ein fast normaler Teenager. Der Weg dorthin war jedoch für die gesamte Familie ein schwerer.
Unter den Krankheiten, die von Eltern an ihre Kinder vererbt werden können, zählt die Blutgerinnungsstörung Hämophile A zu den sogenannten X-chromosomal-rezessiven Erkrankungen. Das heißt, sie wird von (meist) nicht erkrankten Müttern (fast ausschließlich) an deren Söhne weitergegeben. Sie sind Konduktorinnen, tragen also ein mutiertes Gen in sich und können dieses an ihre Kinder weitergeben. Frauen gleichen die Erkrankung über ihr zweites, gesundes X-Chromosom aus. Männer können das nicht. Helga selbst war ihre Erkrankung bis zu ihrer ersten Entbindung nicht bekannt. Bei dieser verlor sie jedoch ungewöhnlich viel Blut, brauchte Konserven, obwohl eigentlich alles normal und gut verlief. Dass sie an einer Blutgerinnungsstörung leidet, hätte sie bis dahin nicht gedacht.
Nicht jede Krankheit beeinträchtigt gleich schwer
Nicht immer ist eine vererbte Erkrankung lebensbedrohlich, doch gemeinsam ist ihnen, dass ihre Ursache sich (noch) nicht beheben lässt. Eine relativ weit verbreitete X-chromosomal-rezessive Erkrankung ist die Rot-Grün-Schwäche. Betroffene können die Farben Rot und Grün schlechter als Normalsichtige unterscheiden, nehmen sie nur vermindert, matter und farbloser wahr. Ursache ist die fehlerhafte Funktion der sogenannten Zapfen im Auge, die für das Farbsehen verantwortlich sind. Im Alltag wird die Sehschwäche von den Betroffenen im Allgemeinen nicht als besonders hinderlich angesehen. Trotzdem dürfen einige Tätigkeiten und Berufe von ihnen nur nach erfolgreichem Bestehen umfangreicher augenärztlicher Untersuchungen ausgeübt werden. Das gilt zum Beispiel für die Berufsausübung von Polizisten, Piloten, Chemielaboranten oder Malern. Auch Luft- oder Wassersportarten unterliegen aufgrund der relevanten Bedeutung von Grün und Rot (als Kennzeichnungen für links und rechts) diesen Anforderungen.
Die Liste der X-chromosomalen Erbkrankheiten ist lang
Weitaus einschränkender für die Lebensqualität ist die sogenannte Ichtyosis X. Sie ist die zweithäufigste Form einer Hauterkrankung, die umgangssprachlich auch Fischschuppen-Krankheit genannt wird. Grund für diesen Defekt ist das Fehlen eines bestimmten Enzyms, das für den Auf- und Abbau der zementähnlichen Kittsubstanz zwischen den Hornzellen der äußersten Hautschicht gebraucht wird. Typischerweise treten bei den Betroffenen bereits unmittelbar nach der Geburt feine Schuppen an den Unterschenkeln auf. Mit zunehmendem Alter breitet sich die Schuppung auf den gesamten Körper aus, die Haut ist verhornt, wird dunkler und entzündet sich. In manchen Fällen kann es auch zu einer Veränderung der Hornhaut des Auges kommen, die meistens jedoch keine Beschwerden verursacht. Außerdem besteht bei ca. 20 – 40 % der Betroffenen eine Neigung zu Autismus und einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, besser bekannt als ADHS.
Schon Säuglinge benötigen schmerzhafte Therapien
Bei der Blutgerinnungsstörung Hämophilie A ist die Blutgerinnung durch Mangel oder eingeschränkte Funktion des Blutgerinnungsfaktors VIII gestört. Hierdurch können auch stumpfe Blutungen wie Blutergüsse oft nicht angemessen oder nur sehr langsam gestillt werden. Bleibende Schäden durch Einblutungen in die Gelenke sind nicht selten, auch benötigen Erkrankte ggf. später künstliche Gelenke. Auf die Krankheit kann man sich während der Schwangerschaft oder direkt nach der Geburt testen. Helga R. hat fünf Kinder. Zwei ihrer drei Söhne sind erkrankt, ihre Töchter sind gesund und keine Konduktorinnen. Eigentlich war nach dem dritten Kind keines mehr geplant, dann kam Marlon. Als sie erfuhren, dass sie erneut einen Sohn erwarteten, stellten sich die Eltern seelisch auf die Möglichkeit seiner Erkrankung ein.
Anders war es bei Johanna S. aus Düsseldorf. Auch sie bekam zuerst einen gesunden Sohn. Die Diagnose des Jüngsten, Felix, schockierte die Eltern daher: „In unserer Familie war kein Fall bekannt, und wir waren überhaupt nicht darauf vorbereitet“, erinnert sie sich. Meist fällt die Krankheit erst im Krabbelalter auf. „Felix war acht Monate alt, als wir auf seinem Bauch plötzlich blaue Flecken entdeckten – hart und so groß wie Golfbälle“, erinnert sich seine Mutter Johanna. Mit ihrem Kinderarzt hatten sie Glück, denn immer wieder kommt es auch vor, dass Eltern zunächst bezichtigt werden, die Verletzungen selbst verursacht zu haben. Eine Gerinnungsuntersuchung klärt dies aber schnell. Liegt der Verdacht auf Hämophilie schon vorher nahe, wie in Marlons Fall, kann gleich nach der Geburt ein Nabelschnurbluttest durchgeführt werden. Mutter Helga wusste, was sie erwartet. Doch sie sagt: „Jedes Kind ist anders. Marlon hat sehr gelitten“, nicht unter der Krankheit selbst, aber unter ihrer Behandlung.
Tägliche Tortur für die ganze Familie
Weil die Venen von Säuglingen zu dünn für Injektionsnadeln sind, musste Marlon schon mit 10 Monaten über einen Port am Schlüsselbein täglich gespritzt werden. Nur so konnte der fehlende Gerinnungsfaktor VIII ersetzt werden. Mutter Helga erinnert sich an die frühen Jahre ihres heute 15jährigen Sohnes: „Er hat geweint, wenn ich mich nur ins Auto setzte, weil er dachte, es ginge wieder ins Krankenhaus,“ erinnert sie sich. Das tägliche Spritzen war oft eine Qual: „Manchmal bin ich vor lauter Wut auf den Spritzen rumgetrampelt und hab gesagt: ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr!“ Und auch im Grundschulalter bestimmte die Krankheit weiterhin alles: „Übernachtungen oder Ausflüge waren für Marlon nur dann möglich, wenn ich abends hinfahren und ihn spritzen konnte.“ Auch der heute achtjährige Felix scheute die schmerzhaften Injektionen. „Wir mussten ihn mit mehreren festhalten. Er wehrte sich mit Händen und Füßen, schrie und schlug um sich – kein Wunder, wie soll so ein kleines Kind verstehen, was da mit ihm passiert? Und das jeden Tag?“, fragt Johanna sich noch heute. Inzwischen geht es ihrer Familie gut, nicht zuletzt wegen moderner Therapien, die deutlich seltenere Injektionen bedeuten. Die recht seltenen Spritzen sind für Felix zur Routine geworden und die Familie fährt gemeinsam in den Skiurlaub. „Wir sind im Leben wieder mittendrin!“, strahlt die glückliche Mutter.
Erbkrankheiten: Trotz der Unterschiede gleich
Ebenfalls eine genetisch bedingte, schwere Erkrankung ist Morbus Hunter, Mukopolysaccharidose Typ II. Sie betrifft den Stoffwechsel und führt zur Anreicherung komplexer Kohlenhydrate in der Zelle. Den Betroffenen fehlt das für den Abbau dieser Kohlenhydrate verantwortliche Enzym oder es ist defekt. Sie neigen zu vergröberten Gesichtszügen, einer vergrößerten Zunge, verdickter Haut und vermindertem Wachstum. Zudem sind Milz und Leber deutlich vergrößert, so dass der Bauch der Betroffenen stark hervorgewölbt ist. Auch Veränderungen des Skeletts im Bereich der Wirbelsäule und des Schädels weisen auf die Krankheit hin, ebenso wie die charakteristischen versteiften Hände. Zu den äußerlichen Veränderungen kommen mit fortschreitender Krankheit oft Herzprobleme und eine Verschlechterung des Seh- und Hörvermögens dazu. In besonders schweren Fällen kann es auch zu einer verzögerten geistigen Entwicklung oder zum Atemstillstand kommen. Wenn auch nicht heilbar, so ist Morbus Hunter doch therapierbar über die Substituierung eines Enzymersatzpräparats, das die Funktion des fehlerhaften Enzyms übernimmt. Inzwischen sind die Infusionen auch als Heimtherapie möglich. Ganz neue Ansätze gibt es aus den USA für eine Gentherapie.
Den Eltern von Spielfreunden ist die Verantwortung oft zu heikel
Wie gingen Helga und Johanna als junge Mütter damit um, Trägerinnen einer vererbten Krankheit, zu sein? „Ein geschädigtes X-Chromosom hat man einfach,“ sagt Helga. Was sie umtrieb, war eher die Sorge, ihre Söhne könnten nicht normal aufwachsen. Kaum ein Kinderarzt kenne sich mit der Krankheit aus. Kindergärtner und Lehrer wurden von ihr immer informiert, sollten aber nur Bescheid sagen, wenn einer ihrer Jungs sich schmerzhaft verletzte. Dann war Helga schnell mit den Medikamenten vor Ort. Viel schlimmer empfand sie die Reaktionen einiger Eltern: „Die sagten teilweise, das sei ihnen zu heikel, sie wollen keine Bluterkinder als Spielfreunde.“ Erlebt habe sie das zum Glück nie selbst, sondern nur von anderen Eltern hämophiler Kinder erfahren. Auch darum rät sie betroffenen Familien eindringlich dazu, sich früh an Betroffenengruppen zu wenden. In der Interessengemeinschaft Hämophilie e. V. zum Beispiel gab es Vater-Kind-Tage, Sportkurse und Spritzenkurse, in denen die Eltern das Spritzengeben lernten. Dort sah die junge Mutter auch zum ersten Mal hämophile Kinder ohne Probleme mit Bobby-Cars über Waldhügel fahren und fasste Mut.
In den Selbsthilfegruppen entwickelten sich für die ganze Familie tiefe Freundschaften. Regelmäßig tauschten sie sich über Erfahrungen und neue Therapieansätze aus. Einem solchen verdankte die Familie vor einigen Monaten die „große Wende“, wie Helga es nennt. Denn dank moderner Medikamente kann sie endlich mit allen Kindern in einem Auto zur Familie nach Süditalien fahren, weil sie für Marlon statt eines Koffers voller Medikamente nur ein paar kleine Fläschchen mitnehmen muss. Auch sind die Sorgen seither in den Hintergrund gerückt, so weit, dass Helga sich manchmal eine Erinnerung in ihr Handy setzen muss, um die selten gewordene Injektion für Marlon im lebhaften Alltag nicht zu vergessen.
Wenn Sie selbst betroffen sind oder mehr zu Hämophilie, Morbus Hunter und Ichtyosis X erfahren möchten, finden Sie hier weitere Informationen:
Bei Bedarf nach Informationen zu Therapien bei Hämophilie A.
Die Gesellschaft für Mukopolysaccharidosen (MPS) e.V. ist eine Selbsthilfeorganisation, die von Eltern betroffener MPS-Patienten gegründet wurde. Inzwischen ist der Verein bundesweit aktiv.
Die Selbsthilfe Ichthyose e.V. ist die einzige Selbsthilfegruppe für Ichthyose Patienten und ihre Angehörigen.